Interaktiv, niedrigschwellig und auch mit Kontaktbeschränkung möglich: In der Inszenierung ‚Lockdown‘ experimentiert das Theater-Kollektiv machina eX mit einer Messenger-App als Spielmedium.
Tess ist Fahrradkurierin, Teil einer fünfköpfigen WG irgendwo in Düsseldorf – und gerade partout nicht zu erreichen. Das wäre an für sich noch kein Grund zur Sorge. Doch die Welt ist pandemiebedingt im Ausnahmezustand und Tess an ihrem letzten Auftragsort nie angekommen… In ‚Lockdown‘, einer Produktion des Game-Theater-Kollektivs machina eX, wird das Publikum zum Teil der fiktiven WG: Gemeinsam mit Mitbewohner Chris begibt es sich auf die Spur der verschwundenen Tess.
Anfang Mai 2020 hatte ‚Lockdown‘ Premiere – nach weniger als sechs Wochen von der Idee bis zur Umsetzung. „Wir machen kein explizites Corona-Stück, greifen aber diese außerordentlichen Zustände als Rahmen für die Erzählung auf“, betont machina eX-Dramaturg Yves Regenass. Ursprünglich geplant gewesen sei eine andere Inszenierung im Zuge des ON/LIVE-Festivals des FFT Düsseldorf, einer Plattform für freies Theater. Auf den realen Lockdown reagierte machina eX kurzerhand mit einer digitalen Antwort. Ganz im Stil des Kollektivs wird die Produktion nicht still rezipiert, sondern die Zuschauer*innen sind aktive Spieler*innen.
Erzählen mit verstreutem Publikum
Das eigentliche Geschehen baut sich aus der Distanz heraus auf: Die Wohngemeinschaft lebt Corona-bedingt voneinander isoliert. Allein in der WG verblieben, bemerkt Chris, dass Tess verschwunden ist und alarmiert die verstreuten Mitbewohnerinnen per Text-Message. Das Smartphone wird im Verlauf der 90-minütigen Produktion zum Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung: Im Chat, über Web-Suchen, Stadtplan-Analysen und Anrufketten mit Kolleginnen und Auftraggeberinnen rekonstruieren die Beteiligten, wann Tess‘ Route unterbrochen wurde, wer sie zuletzt gesehen haben könnte und warum sie verschwunden ist. Die Erzählzeit und die real durch die Spielerinnen erlebte Zeit sind dabei kongruent.
„Mit ‚Lockdown‘ führen wir Ansätze fort, mit denen wir letztes Jahr bereits experimentiert haben“, betont Yves. „In der Produktion ‚Patrol‘ haben wir zum Beispiel ein urban game gebaut, das primär über Mobiltelefone realisiert wurde. Die Geschichte war im analogen Stadtgebiet verortet, dessen reale Gegebenheiten von uns mit fiktionalen Elementen überzogen wurden.“
An die Stelle des Stadtraums tritt in ‚Lockdown‘ jedoch das beschränkte Umfeld der heimischen vier Wände der Teilnehmenden. Und so ist die Produktion zugleich ein Experiment für das siebenköpfige Team von machina eX: „Da wir von einer höchst unterschiedlichen Wohnsituation der Spielenden ausgehen müssen, tritt die fiktive WG als Setting in den Hintergrund. Wir können nur spekulieren, ob es bei allen Teilnehmenden ähnliche Gegenstände gibt, auf die wir Bezug nehmen könnten und die wiederum spezifisch genug sind, um sich spielrelevant einsetzen zu lassen. Über das Gamedesign und das technische Setup müssen wir für Ausgleich sorgen“, erläutert Yves. Daher fungiert die Figur des Mitbewohners Chris als Intermediär. Er kontaktiert die WG-Mitglieder aus der Distanz, tritt in Tess‘ Zimmer, um handlungsfördernde Objekte zu suchen und begibt sich schließlich – geleitet von den Chat-Mitgliedern – auf die Suche nach ihr.
Ideen schmieden, Texten, Programmieren
Erzählmedium der Wahl ist dabei nicht ganz zufällig die Messenger-App Telegram. machina eX machen sich für ihr Spiel die Alltäglichkeit des Smartphones zu Nutze. Für Yves ist dabei die Niedrigschwelligkeit des Formats ausschlaggebend: „Keine der im Spiel eingesetzten Interaktionsformen müssen neu erlernt werden. Message schreiben, Message empfangen, telefonieren, im Internet surfen. Die Teilnehmenden tun mit dem Gerät das, was sie immer tun, allerdings zu einem Inhalt, der fiktiv ist. Damit bekommt die Telefonnutzung eine illusorische Komponente.“
Funktionale Aspekte seien bei der Entscheidung für Telegram und damit explizit gegen eine App-Neukonzeption ebenso wichtig gewesen wie Fragen der Kontextualisierung: „Eine eigens für uns programmierte ‚Lockdown‘-App wäre zu exponiert: ‚Ha, ich bin übrigens ein Spiel, lad mich herunter!‘. Telegram ist funktionell selbsterklärend, bei vielen bereits installiert und lenkt deshalb nicht vom Handlungsgeschehen ab.“
Ein Vorteil von Telegram gegenüber anderen Messengern sei laut Yves auch gewesen, dass der für ihre Zwecke benötigte Quellcode der App offen publiziert ist und mit anderen technischen Komponenten verzahnt werden kann. „Wir kombinieren das Text-Messaging mit vorab produzierten Hörspielsequenzen und Sprachnachrichten, selbst generierten Karten, fingierten Websites und mehr.“ Im Messenger kommt hierzu ein Chatbot zum Einsatz, der diese Hilfsmittel gezielt einbindet und auf die Kommentare und Interaktionen der Spielenden mit vorprogrammierten Nachrichten reagiert. Flaut die Mensch-zu-Mensch-Interaktion ab, melden sich die virtuellen Figuren nach bestimmten Abständen eigenständig zu Wort, um die Handlung weiter zu lenken.
Das technische System, das zur Umsetzung nötig ist, ist in großen Teilen von machina eX und dem von ihnen beauftragten Entwickler*innen-Team selbst gebaut. „Programmierung war ein zentraler Teil des Arbeitsprozesses“, hebt Yves hervor. Das berühre sogar die eigentliche Texterstellung: „Wir haben einen Editor, in dem das Textmaterial direkt bearbeitet wird. Das heißt, wir haben nicht einmal ein lineares Skript. Das Stück gibt es nirgends in chronologischer Form aufgeschrieben. Stattdessen muss man sich die online hinterlegten Inhalte als Netzstruktur vorstellen, in der je nach Interaktion eine andere Abzweigung relevant ist.“
Gelenkte Kooperation
Verwirrung, Anspannung, Verweigerung, Neugier, Interesse – während sich in einer Livesituation im analogen Raum die Stimmung der Beteiligten leicht erfassen und beeinflussen lässt, musste für die rein digitale Inszenierung ein eigenes Regelwerk gefunden werden: „Wir kontrollieren üblicherweise sehr viel mehr Parameter, als man annehmen mag. Mit Schauspieler*innen haben wir in einer Vor-Ort-Situation die Möglichkeit, sehr spezifisch auf Vorkommnisse zu reagieren. Das hat einen enormen Reiz. Bei ‚Lockdown‘ erfahren wir hingegen einen gewissen Kontrollverlust – allein schon, da wir nicht persönlich an den Spielsessions teilnehmen. Wir konnten immerhin die Chats nachvollziehen und betreiben während des Spielverlaufs technisches Monitoring, aber das sind nur Daten, die interpretiert werden und Aufschluss darüber geben, ob bestimmte Dinge funktionieren oder eben nicht. Die zwischenmenschliche Dynamik ist dadurch nur begrenzt abgebildet. Das limitiert uns natürlich. Es besteht immer das Risiko, dass Leute während des Spiels abspringen und damit den Rest der Gruppe vor Probleme stellen. Auf der anderen Seite schafft Kontrollverlust ja auch immer neuen Freiheitsraum.“
Beta-Testing statt Bühnenprobe
Ein Ergebnis dieses Freiheitsraums ist die Multiplizierung der Spielsessions. Das Game ist nicht permanent verfügbar, sondern wird zu festen Terminen – kommuniziert über die Website des FFT Düsseldorf – angeboten. Während einer Session spielen maximal zehn ‚WGs‘ zeitgleich und unabhängig voneinander. Am Ende können sich die Teilnehmenden per Videokonferenz zusammenschalten und durchbrechen so die fiktive Welt des Theaters.
Dieser Grenzgang zwischen Theater-Game und realem Alltag betrifft jedoch nicht nur das Publikum, wie Yves anmerkt: „Wir im Team nutzen den Messenger generell, um unsere Arbeit zu koordinieren. Wir sitzen in Kiel, in Berlin, in Hameln, in Leipzig, in Ludwigsburg und ich in Basel. Somit überlagert sich quasi derzeit Arbeitsort und Kunstwelt. Die Vorbereitung unserer Produktionen ist normalerweise von sehr viel Schnittstellenarbeit mit den unterschiedlichsten Akteuren und vom gemeinsamen Ausprobieren geprägt. Im derzeitigen Ausnahmezustand verlagert sich vieles davon ins Digitale. Da wir mit Voice-Recordings statt mit live-Performances arbeiten, konnten wir mit den Schauspieler*innen auch dezentral kommunizieren. Vor-Ort-Proben sind nicht nötig. Stattdessen bedarf es im Vorfeld sehr vieler Testläufe, um die technische Struktur im Hintergrund von Fehlern zu bereinigen. Und auch nach Livegang passen wir noch an.“
Nah am Game, aber nicht ganz das Gleiche
Die Entscheidung für den Messenger sei für ihn und seine Kolleg*innen zugleich eine Entscheidung gegen eine ganze Reihe anderer Umsetzungs- und Inszenierungsvarianten gewesen, betont Yves. So seien Game-Formate, bei denen zum Beispiel Avatare zum Einsatz kommen, die man steuert, oder Ansätze des Live Action Role Play, in der aktuellen Produktion nicht passend gewesen: „Wir sind interessiert daran, den Raum, den man unmittelbar zur Verfügung hat, nicht vollständig in sich geschlossen zu konstruieren, sondern zu erweitern und löchrig zu machen. Natürlich könnten wir auch ein Spiel machen, das rein virtuell funktioniert. Das ist aber nicht das Kerninteresse, das wir mitbringen. Virtual und Augmented Reality wird bei uns zwar künftig noch eine Rolle spielen. Wir arbeiten aber immer in Rückbindung an wesentliche Eigenschaften, die das Theater mit sich bringt und die wir schützenswert und in sich kräftig finden.“
Text: Silvia Faulstich